… UND DANN WAR DA NOCH DIE SACHE MIT DEM KRÖPER.

Seit ich neun Monate alt bin, spreche ich. Polnisch. Mit fünf Jahren lerne ich Deutsch. Mit acht Englisch. Französisch, Russisch, Italienisch, Spanisch folgen. Mehr oder weniger. Von allem blieb etwas hängen. Ich liebe Sprachen. Und Sprache.

Im Anbetracht dessen, dass meine Ohren seit sechs Monaten jedoch kaum ein Geräusch wirklich mögen, bekommt das Erleben des gesprochenen Wortes inzwischen leider einen negativen Beigeschmack. Sprache und vor allem Fremdsprache sind für mich nun nicht mehr Klang und Seele eines anderen Teils dieser Welt, sondern Auslöser für starke Übelkeit und Sehstörungen. Schwyzerdütsch, Französisch und allem voran Englisch haben sich als besonders fordernd entpuppt. Andere Sprachen versuche ich gar nicht erst intensiver zu testen. Drei sind bereits drei zu viel. Meinen Ärzten habe ich davon im Detail nichts erzählt. Was an Symptomen bekannt ist, ist genug für den Moment und ein Menschenleben. Mindestens. Mein Hirn und Long Covid leben offenbar ihr eigenes Kapitel in dieser Geschichte. Und augenscheinlich auch auf einem ganz besonders großen Kriegsfuß miteinander.

Filme und Serien gucken gehört inzwischen der Vergangenheit an. Dialoge, Handlungsstränge, Lichtreflexe, Musik. Alles ist zu viel von allem. Mal wieder. Selbst das eine oder andere Gesicht, das mir in der wirklichen Welt oder sogar nur von einem Zeitungscover entgegenblickt, wird für einen Teil meines Gehirns zum visuellen Endgegner, der mit Brechreiz und Gleichgewichtsstörungen auf ein kurzes Hello vorbeischaut.

Wo ich früher am Abend oder Wochenende einschalten, anschauen, zuhören konnte, geht abschalten außerhalb von Meditation und schweigendem Alleinsein nur noch bedingt. Selbst vermeintlich sanfte Impulse überrollen mich wie die tosenden Wasserwände vor der Küste von Nazaré. Gespräche werden zu einem Strudel aus peitschenden Worten und wütenden Wellen von Tönen, jedes für sich gefüllt mit einer wabernden Masse, ohne Begrenzung und Ende. Dialoge in einer Aneinanderreihung von Sätzen münden mutiert in einem anstrengenden Sammelsurium von Lauten. Leise, langsam. Irrelevant.

Das Leben, in dem ich ohne Schwierigkeiten komplexe Zusammenhänge erkennen konnte, scheint vergangen. Inzwischen fällt es mir sogar schwer, einem kurzen Gespräch zu folgen. Auch in der wirklichen Welt. Das meiste davon auf Schwyzerdütsch. Landessprache. Fremde Sprache. Auch wenn ich sie verstehe. Jedes dieser Gespräche hinterlässt mich im angestrengten Versuch, die Bedeutung von Worten zu erinnern, mich zu konzentrieren, den Faden nicht zu verlieren. Gefangen in einem boykottierenden Körper, der sich voller Inbrunst und den außerhalb meiner Macht stehenden, anschleichenden Symptomen hin–gibt. Ich schaue ihm zu, einzig in der Hoffnung, dass er sich nicht über–gibt. Seine leidenschaftliche Bemühung siegt. Ich erliege. Stehend. Verwirrt. Nicht imstande, meinem sprechenden Gegenüber zu sagen, was gerade in mir vorgeht. Also bleibe ich. Gefangen im Brechreiz. In, je nach kantonaler Dialektik, unterschiedlicher Ausprägung. Und mache weiter, wozu ich gezwungen bin. In der Welt da draußen. Arbeiten. Kreativ sein. Reden. Ich höre zu. Ich antworte. Alles auf einmal. Und das eigentlich immer. Ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen. Mache Scherze, bleibe hilfsbereit. Schützen muss ich mich dennoch. Irgendwie. Zu viel von allem bedeutet für mich im schlimmsten Fall zu wenig vom Allernötigsten. Von dem, das meine Rechnungen bezahlt.

Leben mit Long Covid wird an meinem Arbeitsplatz nur ein ruhigerer, sicherer Ort zwischen 12 und 14 Uhr. Wenn die meisten zum Zmittag sind, wie sie es hier nennen. Weniger Schritte. Weniger Stimmen. Weniger Fragen. Weniger von allem wird für mich ein MehrVomLeben. Bis sie wiederkommen. Die Worte und Menschen. Und ich die Stunden zähle. Und hoffe. Dass dieser Tag spurlos an mir vorbeigeht. Damit an einem anderen Tag alles wieder von vorn beginnt.

Manchmal würde ich mich gerne einfach rausnehmen. Den Stecker ziehen. Die Welt für einen kurzen Moment einfrieren. Flüchten an den verschwindend kleinen Ort in mir, wo Ohrenstöpsel den Schallpegel dämpfen, damit mein Kopf aus diesem Gewimmel von Buchstaben filtern kann, was er noch mag. Doch selbst das Wenige, das dort zu mir durchdringt, ist nicht mehr das, was es einst war, sondern nur ein paar spärliche Überreste, denen ich mich notgedrungen stellen muss, wenn ich nicht komplett abschalten kann. Oder darf. Im Einzelhandel kann man sich leider kaum aussuchen, wer einen anspricht. Und selbst bei einer Reduktion auf das Nötigste, ist es allein schon aus Gründen der Höflichkeit nicht möglich zu beeinflussen, Wie jemand mit einem spricht. Der Tonfall, die Stimmlage, Frequenz, Aussprache, das Vokabular. Sprache lebt. Atmet. Pulsiert. Bewegt.

Long Covid hingegen ist in dieser Hinsicht eher ein Zeitgenosse der behäbigen, einsilbigen, trockenen Sorte. Wenig belesen, kleiner Wortschatz, im stetigen Konflikt mit allem, was Konzentration erfordert. Lebendigkeit entsteht gefühlt nur innerhalb eines Repertoires aus Wiederholungen und Einschränkung. Ein Weiterbildungsradius nahezu nicht existent. Beginnend und endend an der eigenen Umlaufbahn. Kommunikation besteht in seinem Kosmos aus Schweigen und Wortkargheit. Dem Sargnagel für eine Verbindung mit der Welt. Mit ihm zu leben, ist eine Gefangenschaft, die oft nahezu gänzlich von Stille, Einkehr und Einsamkeit geprägt ist. Dort fühlt es sich an, als seien Worte für Long Covid nicht mehr als renitente Widersacher. Schwer zu ertragen. Leicht zu vergessen. Manchmal unsichtbar wie nie geschehen. Wie so vieles an Long Covid.

Durchbrochen von vereinzelten Momenten, in denen man ausbrechen kann, bleibt man in etappenweiser Gewöhnung an die Stille letztendlich dennoch so oft es geht bei sich und allein. Ich versuche trotzdem, am Leben teilzuhaben. Und schreibe. Es hilft mir, diesem Gespenst eine Gestalt zu geben. Vieles, das in meinem Leben mit ihm plötzlich greifbar wird, lässt sich so eher ertragen. Vielleicht hilft es auch einfach, das alles besser zu verstehen. Wenn man sich Worten hingibt, die nicht permanent Unwohlsein auslösen. Weil sie mich verlassen, anstatt mich zu überladen. Stumm. Schweigend. Separiert. Nur dabei kann ich wirklich wählen. Wie weit ich gehe. Wann es endet. Wohin ich wandere. Sprache wird meine Zuflucht.

Wo man Mühe hat, zu kommunizieren, bleibt einem oftmals nur das Gespräch mit sich selbst. Innenschau. Gezieltes Hineinfühlen in alles, was geschieht. Bewusstes Hindurchleben, um nicht zu vergessen, was nicht vergessen werden darf. Für wie selbstverständlich wir Gesundheit nehmen …

So gern ich manches auch vergessen würde. Vieles aus dieser bewegenden Lebenszeit werde ich wohl nicht vergessen können. Zu einschneidend. Mancherorts auch zu beängstigend. Wer davon hört, muss unweigerlich lächeln. Bis er es selbst erlebt. So etwas wie die Sache mit dem Kröper. Er taucht seit fünf Monaten immer mal wieder auf. Aus dem Nichts. Ich habe gegoogelt, ob es ihn gibt und ich mich nur nicht an die Bedeutung dieses Wortes erinnere. Fragend, was es sein könnte. Kröper. Vielleicht ein altertümliches Werkzeug, das mangels Effizienz und fortschreitender Industrialisierung ausrangiert wurde oder ein schwerfällig daherkommendes Fettgebäck, das zu Festanlässen gereicht wird. Google sagt, es gibt ihn nicht. Und doch ist er. Eine von vielen neuen Gestalten, die entstehen, wenn sich mein Hirn, dem derzeit offenbar irgendetwas zu fehlen scheint, und die Tastatur meines Laptops begegnen. Ich denke und tippe, doch irgendwo dazwishcne funkts daziwschen. Dazwischen.

Jeder Text, den ich derzeit verfasse, wäre größtenteils ein Rätselraten, wenn ich der Natur ihren Lauf ließe. Was ich vor vier Wochen noch für einen Ausrutscher hielt, geschuldet meiner langen Abstinenz vom Schreiben und konzentrierten Arbeiten, ist inzwischen Alltag. Buchstaben, die verschwinden oder an Stellen hüpfen, die ihnen bisher fremd waren. Mein Sprachzentrum spiegelt den Weg von Synapse zu Finger zu Bildschirm nicht mehr in der erlernten oder von Natur angedachten Art und Weise, sondern in neuen Wortschöpfungen. Nur wenn ich explizit darauf achte, wird der Kröper wieder, was er ist. Ein Körper. Insofern trifft das mit der mangelnden Effizienz und dem Ausrangieren wohl doch irgendwie zu …

Beim erfolgreichen Versuch, meinen etwas schwerfälligen Hirnwindungen Tempo zu machen und dem Körper seinen angestammten Platz zuzugestehen, leidet die deutsche Rechtschreibung dafür dann an anderer Stelle. So wird die Ampel zum Ampfel und die Geduld weicht dem Gedudel. Alles dazwischen besteht aus Lücken füllen. Wie bei einem schlechten Handwerker. Flickschusterei. In der Hoffnung, es gäbe irgendwann trotzdem ein stimmiges Ganzes, das keiner bemängelt, der nicht an der Fassade kratzt. Ansonsten würde man bemerken, dass Worte sich scheinbar verabschiedet haben, die ich früher wie selbstverständlich genutzt habe. An ihrer Stelle nur ein Loch. Wie in einem unvollständigen Puzzle. Man erkennt immer noch das große Ganze. Doch die Löcher sind da. Genug Platz, um der Angst zu begegnen. Auch das ist die tiefe Spur dessen, was übrig blieb. Vom unsichtbaren Geschehen. Spurlos. Spürbar. SprachSeekrank.

Schwankend bezwinge ich auch diese Etappe. Die Worte kehren langsam zurück. Mein Körper jedoch fühlt sich des Öfteren wieder wie ein Kröper. Weniger lustig als auf dem Papier. Crashs gehören leider immer noch nicht der Vergangenheit an. Ich wünschte, sie wären wie alte Werkzeuge, die man einfach ausrangieren kann, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben. Lebenswerk erfüllt. Zeit zu gehen. Long Covid ist wohl noch nicht bereit. Zeit für mich, Boden unter den Füßen zu kriegen. Stabilisieren. Für den Moment, wenn alles um mich herum wieder zu schwanken beginnt. In der Hoffnung, dass es bald nur noch vier Buchstaben gibt, die ich Long Covid widme.

Ahoi!