365 TAGE LONG COVID

Ein Jahr ist vergangen. Vor zwölf Monaten, als ich noch nicht wusste, was mich erwartet, sah ich mich bereits in wenigen Tagen auf gepackten Koffern sitzen. In Vorfreude auf vor mir liegende, lange Spaziergänge an meinem Lieblingsinselstrand. Freunde treffen, die dort leben und Kraft tanken, bevor die Saison in meiner Branche beginnt und ich wieder gefordert bin bis kurz vor Weihnachten.

Ich dachte, es würde sein wie jedes Jahr, wenn der Herbst in den Startlöchern steht. Ich sah mein Zurückkehren Anfang Oktober, den aus jeder Ecke meiner Taschen rieselnden weißen Sand und die feine Sonnenbräune, die mit mir kam. Vielmehr als nur sie, ein zartschimmerndes Souvenir, das man immer bei sich tragen kann. Noch einige Wochen lang. Verbunden mit vielen neuen Erinnerungen an einen lieb gewonnenen, altbekannten Ort. Gehen muss ich doch. Immer. Zurück aus der Heimat, zurück ins Zuhause. Raus aus den Sommerschuhen, hinein in die dicken Socken. Zu kannenweise warmem Tee. Und dem sanften Schein von Kerzenlicht, wenn ich nach einem langen Tag meinen Flur betrete. Ich habe vergessen, dass ich mich jedes Jahr auf all diese Dinge freute. Weil es so nichtig schien. Im Anbetracht dessen, was im letzten Jahr wirklich wichtig wurde, immer noch ist und war.

Statt auf gepackten Koffern sitze ich auf meinem Balkon und freue mich, dass ich es wieder kann. Das ein paar Minuten Draußensitzen. Ohne Gehörschutz. Jetzt um 19.30 Uhr. Viele Stunden entfernt von dem, was mich noch bis vor wenigen Wochen bereits am Nachmittag zwang, in den Stummschaltmodus zu wechseln. Erschöpft von den Eindrücken des Tages, der nach wie vor fehlenden Ruhe in der Nacht und dem, was das Leben nebenbei weiterhin abverlangt, wenn man an Long Covid erkrankt.

All dies war. Oder es ist zumindest derzeit nicht. Kurzweilig vielleicht nur, vorbei die Flucht vor jedem Geräusch und dem, was es für mich und meinen Körper bedeutet. Doch ich genieße. Vielleicht deshalb umso mehr. Weil es bald wieder vorbei sein könnte. Das Verweilen, Beobachten und Zuhören. Flugzeugen, Vögeln, Autotüren, einer Trillerpfeife im Nachbargarten, spielenden Kindern, Skateboards auf dem Asphalt. Ich schließe die Augen. Vertrauensvoll. Ohne Angst vor dem nächsten Moment unerwartet schmerzender Töne. Bis hierher wollte ich es mindestens schaffen. Endlich wieder erhören zu können, was die Welt viel zu lange vor mir zu verbergen suchte. Sie musste.

Ich sehe die Wärme des Tages den Bäumen entströmen, sich wandelnd zum leichten Duft ferner Erinnerungen. Sie riechen wie mein Strand in der Abendsonne. Wenn das erwärmte Harz der Pinien verfliegt, vermischt mit dem Geist trockener Erde, dem Salz des Meeres in der Luft und dem unverwechselbaren Geruch von frisch frittierten Pommes an einem heißen Julitag. Der Sommer er ist noch nicht vorbei. Und doch ist so vieles bereits gegangen.

Mag sein, dass die Stadt müder wurde. Die Menschen erschöpft von der erdrückenden Hitzewelle, die uns Tage und Nächte gefühlt wochenlang in ihren feuchtheißen Klauen gefangen hielt. Bis sie uns alle entließ in die erste kühle Nacht danach. Verschluckend die sonst so bekannten Geräusche des Wochenendes. Das Schreien und Kotzen betrunkener Teenager, hier und da ein wenig martialischer Gangsta-Rap aus übersteuert dröhnenden Soundanlagen in tiefergelegten Karren, die sich nachts um zwei vor unser Haus verirren und Party-Touristen aus Spanien, Frankreich, England, Amerika. Grenzenlos, rastlos, feiernd im fremden Ferienland, vergessen feiernd im ländlichen Freien. Irgendwo hier um die Ecke. Oder einfach nur sehr sehr laut für sehr sehr spät.

Müde waren wir. Nach dem langen Warten und dem noch längeren Erleben. Der Festivals, dem Laut, dem Heiß, dem Überfüllt. Doch dann kam er. Der langersehnte Regen. Die Hitze tief versunken im Boden, den Wänden der Häuser, jedem Blatt und dem Wasser der Brunnen, von lautem Donner begleitet, endlich hinausgespült. Tropfen für Tropfen. Langsam. Beständig. Umgeben von Grau. Für Tage. Alles wurde stiller. So scheint es. Doch vielleicht wurde es auch einfach nur stiller in mir. Vielleicht hat mein Körper endlich verstanden, was ich ihm im letzten Jahr so oft zu sagen versuchte. Hab keine Angst. Alles wird gut. Es geht vorbei. Beruhigend und leise wie zu einem kleinen Kind, das nicht merken darf, wie verängstigt man selbst ist. Ruhe schenken, wenn der Sturm in einem wütet. Liebend. Behütend. Sorgsam. Mütterlich. Keine leichte Aufgabe.

Das Läuten der Kirchturmglocken am Morgen ist an einigen Tagen immer noch zu viel. Aber heute Abend und immer öfter geht ihr Klang im Laufe der Stunden einfach an mir vorbei. Ich glaube, das ist gut. Mehr aushalten können, ohne sich hindurchzwingen zu müssen. Innehalten, ohne das Erschrecken zu fürchten. Wach sein dürfen und auf die Ruhe danach vertrauen können. Ich glaube, so fühlte es sich an. Damals. Davor. Das Leben. So wie nun. Schwach, zart, vorsichtig. Wie ein Liebender, der seine neu erweckten Gefühle noch nicht zu offenbaren wagt. Schüchtern. Mit roten Wangen. Voller Vorfreude und Visionen, was gemeinsam möglich wird, wäre. Und schon ist. Wo es noch vor wenigen Monaten leise an meine Tür klopfte, begegnen wir uns nun wieder. Mein Leben und ich. Behutsam besänftigt. Gesucht, gefunden, geschätzt. Vielleicht nur, weil ich es verlor.

Ich sollte, könnte mich freuen über diese kleinen Erfolge, die Sonnenstrahlen, das erneute sanfte Aufflammen des Spätsommers. Es fiele mir leichter, wenn sie nicht zurück wäre. Meine teetrinkende alte Bekannte, die Angst. Seit einigen Tagen schon stecke ich im Countdown Richtung Heute. Immer wieder eingeholt von Erinnerungen an das Datum meiner Ansteckung, den Ort, an dem es geschah und die Leichtigkeit, mit der ich die Zeit bis zur Erkrankung erlebt habe. Gedankenverloren. Gestolpert. Bin ich. Über gespeicherte SMS aus diesen Tagen. Den Chat mit meiner Kollegin, bei der ich mich in Hamburg angesteckt habe, die Sprachnachrichten, in denen ich ihr gesagt habe, dass sie vermutlich auch positiv sei. Dass ihre laufende Nase und das Niesen und Husten, nicht wie sie geglaubt hat, nur die Begleiterscheinungen eines einfachen Schnupfens wären. Festgehalten von WhatsApp, die ersten Laute der nahenden Nebelkrähe. Die erste Ahnung von Atemnot und Schwäche. Ein erster Blick auf die Schlinge um meinen Hals. Leichtgewicht und doch schon damals Last. Als ich gehört habe, dass meine Kollegin zehn Tage nach meinem positiven Testergebnis bereits wieder auf Reisen und am arbeiten gewesen ist. Als wäre nichts geschehen.

In mir ist das alles noch. Tief vergraben. Als wäre es erst gestern gewesen. Das immer wieder aufflammende Fieber, die Schmerzen, die Schwäche. Benommenheit. Der Blick auf die hellgelben verschachtelten Fliesen unter meinen Füßen. Wie sie sich vor meinen Augen zu bewegen begannen, in der Carrer Mar i Estany. Der erste Cancan in meinem Kopf. Vier Wochen später. Die erste unvorhersehbare Schwindelattacke, als ich meinen Koffer bei der Abreise aufs Förderband hob. Die ersten Untersuchungen. Der erste Verdacht. Der erste Crash. Viele Premieren. Viel los in meinem Kopf.

Die Verschlimmerung der Symptome, die wie immer pünktlich zu meiner bald einsetzenden Periode mit voller Wucht reinrauschen und der blaue Vollmond geben mir den Rest. Lass es los, würde ich mir gerne sagen, sage ich mir, schaffe es nicht. Wie so vieles. Immer noch. Das, was mich im Griff hat, ist zu präsent. Weil die Bilder, die waren, nicht die einzigen sind, die blieben. Weiter zurück wieder und wieder versinkt mein Geist. In sich überschlagenden Bildern und Momenten, als noch alles möglich schien.

Ich fühle sie noch immer, die straffen Bettlaken auf der Matratze in meinem Hamburger Hotelzimmer, den kalten Wind, der den nahenden Herbst ankündigt, das gemeinsame Sitzen am Wasser mit Kollegen. Greifbare Energie, Enthusiasmus, Endstation. Endlich angelangt. All dies eingebettet in Vorfreude auf ein neues großes Projekt, das uns für drei Tage an diesem Ort zusammenbrachte und wie ich heute weiß, zum erfüllendsten Langzeitauftrag meiner gesamten Laufbahn werden sollte. 72 Stunden wie ein einzelner endlos schöner Tag. 72 Stunden, in denen ich lebte. Gefühlt zum letzten Mal.

Heute: Vor 72 Stunden wurde dieses Projekt sehr spontan beendet. Ganz ohne Hinterhalt. Ist etwas, das man bekommt, das einem gleichzeitig etwas nimmt, trotzdem etwas Positives? Plus mal minus ergibt minus, schießt mir durch den Kopf. Existenzangst minus Existenzgrundlage macht unterm Strich meine Gegenwart. Vielleicht noch eine Tasse Tee, meine Liebe? Sie lächelt nur.

Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster. Meine Finger reichen nicht aus, um zu zählen, wie oft ich diesen Satz in den letzten drei Monaten zu hören bekam. Was jedoch geschieht, wenn alle Türen zugehen? Ausgenommen die zum Keller. Die, hinter der einem noch weniger von nahezu nichts zum Leben bleibt. Darauf hat keiner eine Antwort. Oder den passenden Wandtattoospruch.

Ich könnte mir sagen, auch dieser Verlust sei nur einer der vielen Abschiede, von denen es in den letzten 365 Tagen schon unzählige gab. Gelernt, Abschied zu nehmen, habe ich trotzdem noch nicht. Ich glaube, das wird dauern. Das Sich-aussöhnen mit dem Gehen-lassen-Müssen. Vielleicht habe ich einfach zu viel auf einmal verloren. Zuviel Gutes in zu kurzer Zeit. Und ersatzlos. Wie es ab jetzt weitergehen wird, weiß ich nicht. Das Warten auf die Geduld wird mehr denn je zum Warten auf ein Wunder. Vier Monate bleiben mir. Bis das Wunder geschieht, der reiche Erbonkel auftaucht oder ich untergehe.

Fester und fester. Zieht sie sich. Die Schlinge. Nicht nur um den Hals. Nun um mich. Alles auf Anfang. Kurz vor dem Ende. Damals wie heute. Die Zeit, sie heilt nicht alle Wunden. Nicht die, die Long Covid hinterlässt. Tiefe Kerben. Tiefe Narben. Tiefe Spuren. Wenn Corona geht und das Leben mit sich nimmt. Was nicht mehr ist, kann man nicht sehen. Und doch ist es da. Von einem Atemzug zum nächsten.

OhneAtemKeinLeben.

Seit September letzten Jahres füllte der Raum dieser Worte meine Welt. Der Rest ist Geschichte. Diese Geschichte. Was folgt, ist ein neues Kapitel. Mit dem gleichen Titel. Long Covid diktiert, ich schreibe mit. Und hoffe. Immer noch. Dass das letzte Wort, das ich dieser Krankheit eines Tages widmen werde, nur vier Buchstaben hat.

Ahoi.