FAULFIEBER

Mit der Existenzangst kommen die Vorwürfe. Versteckt, direkt. Aus dem Außen und meinem Innen. Früher hätte ich mich in einer solch erdrückenden Situation sofort um eine Stelle beworben. Irgendeine. Für keine Arbeit zu schade, für keine Anstrengung zu schwach. Zu schade bin ich mir immer noch für nichts. Ich würde sogar wieder putzen gehen, wenn ich nicht wüsste, dass selbst das mich der tagelangen Isolation in einem dunklen Zimmer, meinem Bett und dem nächsten Crash näherbringt als einer wirklichen Veränderung meiner Lebenssituation zum Positiven. Ich wünschte, es wäre anders, doch sobald irgendetwas meinen Körper zu viel ist, ruft er gefühlt immer noch den Dritten Weltkrieg aus. Oder ein ähnlich gravierendes Ereignis. Mein Frontallappen ist zu seinem universellen Sprachrohr geworden. Sägend, ziehend, pochend, pulsierend. Als würde sich mein Gehirnvolumen verdoppeln. Schwindel, Übelkeit und das immer wiederkehrende Unwohlsein und Fieberschübe. Altbekannt, nach wie vor lästig. Ich weiß, sobald das alles losgeht, bin ich übers Ziel geschossen. Zurück geht’s dann lange nicht.

Letzten Monat habe ich zum dritten Mal versucht, innerhalb eines Monats zwei Tage mehr zu arbeiten als bisher. Insgesamt acht Tage. Acht Tage, die hier in der Schweiz einem 40 Prozent Anstellungsverhältnis gleichkommen. Übersetzt heißt das: ohne Rentenansprüche. Die gibt’s erst ab 60 Prozent bzw. drei Tagen in der Woche. Zwölf Tagen im Monat. Sechs Tagen zu viel für mich. Immer noch. Error nach Trial. Gefühlt immer weniger Menschen verstehen das. Hey, es geht dir doch schon viel besser als noch vor sechs Monaten. Du kannst wieder lachen. Und ein bisschen mehr heben. Yippie!

Seit einer Woche liegt die Quittung für diese zwei Tage mehr arbeiten als bisher vor mir. Sie spricht zu mir. Doch das, was sie sagt, ist alles andere als das, was ich hören will. Tagsüber werde ich immer wieder müde, meine Augenlider sinken Richtung Boden wie Blei. Mein Hirn mutiert zu einem gequirlten Blutnebel. Zitterndes Erwachen in der Nacht. Übelkeit. Husten. Brustschmerzen. Fünf Freunde, das sind wir. Mein Puls beteiligt sich an unserem lustigen Reigen. Herzstolpernd, pochend, ungefragt. Mit den immer gleichen Worten. Es war zu viel.

Es war zu viel. Wie konntest du nur!?! Rumpelt es mir entgegen. Gefolgt von „60 Prozent in Festanstellung, das wäre jetzt das Beste für dich. Dann hättest du diese Geldsorgen nicht.“

Wie soll ich das schaffen?! Zwölf Tage sind zu viel. Immer noch. Übernimmst du den Preis, den ich für jedes zu viel zahle? Für jedes Wort, jeden Schritt, jede Stunde? Bist du für mich da, wenn ich wieder von vorn beginne? Oder nie dahin zurückkehre, wohin ich mich fast ein Jahr mühsam zurückgekämpft habe? Wieder lachen können, etwas mehr heben. Ein bis zwei kurze Telefonate pro Woche, ohne dass sich mein Hirn in einen Tümpel aus klumpig pulsierendem Kartoffelbrei verwandelt, sind kein Indiz für wiedererlangte Gesundheit.

Wie soll ich zwölf Arbeitstage mit je neun Stunden hinter mich bringen, die nach einem festen, fremdbestimmten Schema ablaufen, wo ich Lautstärke kaum bis gar nicht kontrollieren kann und umgeben von vielen Menschen unter fremdgewordener Belastung funktionieren muss? Ohne bereits in der ersten Arbeitswoche zusammenzubrechen? Ohne noch kränker zu werden. Risiko? Um am Ende unter Umständen gar nicht mehr arbeiten zu können und komplett ohne Geld dazustehen? Hilfst du mir da raus? Etwas mehr lachend, hebend. Yippie!

Ich bin nicht freiwillig und gerne so wenig am arbeiten und ich bin auch nicht freiwillig so schnell erschöpft und auch nicht gerne auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Ich genieße und wünsche mir diesen Zustand nicht und es gibt wahrlich Erstrebenswerteres als jetzt und auf unabsehbare Zeit in einem Kreislauf aus Überlastung, Schwäche, Rückfällen und Crashs festzuhängen. Ich kämpfe jeden Tag darum, dass all das aufhört.

Ein ganzes Jahr hat mein Körper gebraucht, um nun ein- bis zweimal die Woche Belastungsgehen, wie ich es nenne, aushalten zu können. Eine oder zwei halbe Stunden, die mich jedes Mal zwei oder drei Tage Zeit kosten, bis mein Körper sich wieder einigermaßen erholt hat und aus den Symptomen von Alarmzustand herausfindet, in den ich ihn jedes Mal versetze. Wenn ich Glück habe und nicht davon crashe. Ich kämpfe trotzdem weiter. Damit ich belastbarer werde. Damit ich mehr schaffe. Und auch, damit ich wieder mehr als sechs Tage im Monat arbeiten kann.

Ich bin die erste, die Long Covid am liebsten in die Wüste schicken und hinter mir lassen würde. Nicht nur wegen der Geldsorgen, sondern um mein oder überhaupt so etwas wie Leben zurückzubekommen. Ich leide nicht freiwillig. Genauso wenig wie ich gerne jeden Tag mit diesen Sorgen und Ängsten aufwache und fast verzweifle.

Ich würde lieber gestern etwas ändern als morgen. Einfach aus meinem Bett aufspringen und in den Tag starten. 60 Prozent arbeiten. Verdammt nochmal, sogar 100 Prozent mit einem spießignormierten Wochenende, das am Freitag um 17 Uhr beginnt. Wenn ich es könnte. Das alles hier ist kein Spiel und auch kein Resultat meiner Bequemlichkeit oder Faulheit. Puls 120. Zu hoch. Atmen. Hängebauchschweinchen. Ein. Aus. Ein letztes Mal. Ich will mich nicht ständig erklären. Echauffieren. Entschuldigen. Für fast zwölf Monate Kampf. Und ich schätze noch einige Monate mehr. Ich bin kein Orakel. Mein Körper auch nicht. Ich nehme, was ich kriege. Ich habe keine andere Wahl. Ich wiederhole mich. Doch anscheinend hört man mich nicht. Nicht wirklich. Verstehen und tatsächlich verstanden werden, liegen wohl doch zu weit auseinander.

Was es heißt, Long Covid zu haben, ist für viele Außenstehende offenbar auch nach einem Jahr akribischer Beschreibungen schwer nachzuvollziehen, weil man mir meist nur in den Zeiten begegnet, in denen ich mich gerade so über Wasser gehalten oder einen etwas besseren Tag hatte. Meine Nachbarin und Saschko, mein bester Freund, sind die Einzigen gewesen, die mich in den schwachen Phasen oder im Crash gesehen haben. Inzwischen habe ich gelernt, sehr gut zu überspielen, wie es mir wirklich geht. Ich erwähne nicht mehr explizit, womit ich 24 Stunden am Tag kämpfe. Doch nur weil ich es nicht erwähne, heißt es nicht, dass es nicht stattfindet oder dass ich gesund bin und einfach zum gewohnten Tagesprogramm wie vor der Erkrankung übergehen kann.

Faulfieber. Ein Begriff aus Kindertagen. Ein Wort, das sich wieder seinen Weg in mein Leben bahnt. So fühlt es sich an, wenn man sich mit einer Erkrankung wie Long Covid weigert, ein zu hohes Arbeitspensum aufzuladen. Weigern muss. Weil man sich besser kennt als die anderen und jeder Tag, an dem den Kampf gegen die Krankheit von Neuem beginnt, bereits ein Tag zu viel ist. Unverständlich? Weil unsichtbar? Das große rote Schild um meinem Hals verdeckt inzwischen meinen gesamten Körper. Ich verschwinde dahinter. Um Hilfe schreiend. Verständnis suchend. Unterstützung verlangend. Verstummend.

Vermutlich als Folge des Faulfiebers.

Während all dies in mir geschieht, klettert der wilde Wein mutig am Stamm der Tanne in meinem Garten empor. Rotbunt flackernd im leichten Wind. Die warmen Sonnenstrahlen brechend. Wo sie sich treffen, verbleibt die Stimme des beginnenden Herbstes. Sie raunt mir zu, dass ich versagt habe. In einem säuselnden Brummen. Sonor. Hypnotisierend. Überzeugend. Begleitet vom enttäuschten Echo derer, die mir Geld angeboten und geliehen haben. Ich wünschte, ich hätte es nicht annehmen müssen. Um mir das nun einsetzende Gefühl der Bringschuld zu ersparen. „Eine 60 Prozent Festanstellung wäre jetzt das Beste für dich.“ Höre ich sie und die bunten Blätter mit dem Wind zu mir tragen. Vermeintliche Rettung. Die Lösung so nah. Nicht wenn man hört, was für mich hinter diesen Worten steht. Du bist zu wenig. Du schaffst zu wenig. Du kämpfst nicht genug. Es reicht einfach nicht. Du reichst einfach nicht. Ernüchternd ehrlich? Eher enttäuschend. Wie Motivation aus der Retorte. Geklonter Ableger dessen, was ich gerade wirklich bräuchte. Anstatt eines schwarzen i-Tüpfelchens auf der Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Auf meinem Stück vom Lebenskuchen. Rosa klebrig bezuckert serviert. In Schönschrift mit folgenden Worten verziert. Den täglichen Kampf gegen eine chronische Erkrankung nicht zu verlieren. Heutzutage nicht genug. Yippie!

Konfliktbeladen wandere ich tageintagaus mit solchen und ähnlichen Aussagen am Bein. Getätigt, genährt von falschen, für mich nicht erfüllbaren Erwartungen. Mein Gefolge von Tag zu Woche. Ein Jahr. Schöpfungen der Ungeduld? Resultat wahrer Sorge? Schockerstarrt zu Grabe getragen wie die letzten paar ausgehungerten Mücken, die sich immer mal wieder in meine Wohnung verirren. Ich muss auch sie enttäuschen. Bei mir gibt’s nichts zu holen. Blutleer bin ich. Näher dran am Gehen als am Bleiben. Faulfieber-Peak. Die langersehnte Stille ist eingekehrt. In meinem Garten. In mir noch nicht. Krähen verteidigen ihre Brut. Mein kleines Olivenbäumchen hat beschlossen, einige Blätter gehen zu lassen. Der Kampf ums Überleben herrscht überall. Die Stärksten dürfen bleiben. Bin ich wirklich zu schwach? Habe ich wirklich zu wenig gekämpft? Soll ich wirklich zu denen gehören, die für den Untergang bestimmt sind?

Wo ich derzeit auch hinblicke, wird gekämpft für uns Betroffene. Für Therapien. Studien. Fördergelder. Anerkennung. Beistand. Es wird viel gesprochen. Geschrieben. Geteilt. Der Unmut wächst. Exponentiell mit den wieder steigenden Corona-Fallzahlen. Ich frage mich oft, ob es sich lohnt, weiterzukämpfen. Wie viel bin ich als Kranke noch wert? Für das Außen, in dem ich verschwinde. So groß und rot mein Schild auch ist. Wo ich Belastung bedeute und nicht Zuwachs. Gewinn. Gewinn, der sich in Zahlen messen lässt. Ich falle raus aus dem System. Weil ich es nicht trage. Gedrängt, für immer zu verstummen. Der Weg nicht weit, wenn die Kraft dich verlässt. Kämpfend um Klicks. Um Kommentare. Um Herzchen. Die gefühlt nichts bedeuten. Gesetzt im Moment. Vergessen im nächsten. Der Zähler läuft. Und meine Zeit läuft ab. Geschätzt bereits etwa 60 Prozent.

20 zu viel.