Wir tun es. Wir müssen. OhneAtemKeinLeben. Ein. Aus. Etwa 15-mal die Minute. Wenn’s wild wird – öfter. Wenn wir schlafen – seltener. Dass wir RICHTIG atmen, ist uns in diesem selbstverständlichen Prozess, der unser Überleben sichert, jedoch noch lang nicht wie selbstverständlich mitgegeben. Etwas anderes hingegen ist umso selbstverständlicher. Flach soll er sein und bleiben. Der weibliche Bauch. Immer. Auch beim Atmen. Klingt an den Haaren herbeigezogen? Hat nichts mit Heilung zu tun? Weiterlesen.
Welche Frau kennt es nicht: Das schöne, neue, enge, figurbetonte Kleid, gekauft im Hormon-High, die supersexy Lieblingshose, die bereits seit zehn Jahren treu mit dir durchs Leben geht, ein bisschen knapp zwar schon immer, bis er endlich schließt, der Reißverschluss und oberste Knopf, aber wie sagt man so veraltet klug – „Wer schön sein will …“. Und vor allem schlank.
Was damals schon war, ist heute beim Rendezvous die Shapewear, die formen soll, was noch nie gewesen oder in den letzten zehn Jahren dem Lauf der Natur der Dinge und weiblichen Hormonen zum Opfer gefallen ist. Ein Hoch auf gute Gene oder den Schönheitschirurgen, die es für die meisten von uns allerdings nicht gibt. Genauso wenig wie den Bauch mit Sixpack und auch nicht auf ewig flach wie bei einem elfjährigen Schulmädchen. Doch im Versuch, das zu übergehen, atmen wir, meist oberflächlich, kurz, hinein in die Brust. Reicht zum Überleben.
Als Pendant zum Relikt aus den Anfängen des vorletzten Jahrhunderts ins Korsett gezwiebelt und hinaus, Bauch rein, Brust raus. Wie praktisch, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Als müssten Frauen in der Region zwischen Busen und Keule, zumindest optisch, für immer ein Kind bleiben. Forever Eleven. Damals, als wir uns noch keine Gedanken über Schönheitsideale machten und erst recht nicht ans Bauch einziehen dachten. Mit leider sehr begrenzter Verweildauer in den Köpfen heranwachsender Mädchen.
Denn irgendwann lernen wir da draußen in der Welt: Kurven ja, aber bitte unter Kontrolle und an den richtigen Stellen. Dann klappts besser auf dem Heiratsbasar. Und beim Vorstellungsgespräch. Im Job. Und mit dem neuen Vermieter. Alles wird leichter. Schön und schlank. Dann wirst du geliebt, begehrt, verehrt. Also, Bauch eingezogen und ganz entspannt lächelnd am zwickenden Reißverschluss vorbei geatmet. Immer bis kurz davor, wo der Atem eigentlich im besten Fall hinmüsste. Tief hinein in den Bauch, … der ja aber leider innerhalb einer schon ziemlich lange unterschwellig geltenden Sanduhr-Schönheitsdoktrin nicht allzu offensichtlich gezeigt werden kann, darf und soll, was er bei Frauen nahezu jeden Tag ist. Rund. Frauenbauch, Hormonbauch, Blähbauch, Strawberry-Days-Bauch, Wohlstandsbauch, Schon-wieder-keine-Zeit-für-Training-gehabt-Bauch, Die-Pizza-war-ein-bisschen-zu-groß-aber-sooo-lecker-Bauch, prämenstrueller Bauch, Post-Schwangerschaftsbauch … Manche von uns ziehen ihn sogar beim Sex ein. Ehrlich! Einfach Fallenlassen? Rücklings. Von oben. Von unten. Von wegen.
Wie wir es auch drehen und wenden. Er ist da. Immer. Auch um ganz entspannt durch die Hose zu atmen. Doch der Natur zuwider und dem Schönheitsideal der Wahl zur Qual wird stattdessen wie wild trainiert, geshaped und gehungert, mit dem Ziel, dass da irgendwann nichts mehr ist, was sich beim Atmen rund und sichtbar nach außen wölben könnte. Bis es so weit ist, drängt abends daheim auf dem Bett, beim Ausziehen der Hose, vielleicht doch noch klammheimlich nach außen, was nach außen gehört. Der Bauch. Und ein tiefer Atemzug. Ein. Aus.
Auch ich gehöre zu diesen Frauen, die falsch, flach, kaum geatmet haben. Aus diversen Ambitionen und mit weitreichenden Folgen, wie ich heute weiß. Nicht ohne Grund bin ich meiner Atemtherapeutin unglaublich dankbar. Sie hat mich in meiner ersten Stunde bei ihr, als ich kurz nach dem ersten Crash – von Sehstörungen, Symptomen aufgrund der Reizüberflutung durch Licht und Geräusche geplagt – nicht in der Lage war, Übelkeit und Zittern in den Griff zu bekommen, mit nachhaltigem Resultat an die Macht des RICHTIGEN Atmens herangeführt. In sehr bequemer Kleidung. Shapewear Ade. Heilung hello.
Doch zunächst sitze ich auf der Liege in ihrem Behandlungszimmer mit verkrampftem Bauch. Sei es vom monatelangen Husten oder weil es wohl schon seit eh und je so war. Meiner bewussten Wahrnehmung entgangen und erst durch ihre Erklärungen wird mir klar, dass mein Bauch sich gar nicht mehr oder nur unter Anstrengung und einsetzender Verspannung nach außen wölben kann. Oder will. Weil er sich flach sehen möchte. Und ich ihn. Bis zu diesem Moment auf dieser Liege, als ich will, dass er alles zeigt, was er von Natur aus hat. Aber nicht kann. Weil mein Zwerchfell wohl auch durch jahrzehntelanges falsches flaches Atmen dauerhaft angespannt ist. Und diese Anspannung im Innen, initiiert und potenziert durch die Kombination mit großem Stress von außen, unterstützen konnte, dass mein vegetatives Nervensystem immer wieder Purzelbäume schlägt, sich aufhängt und mein Körper nun im Dauerkampf gegen den Long-Immunsystemfeind-Covid feststeckt. Freeze, Fawn, Fight and Flight. Immer im Wechsel. In Dunkelheit. Das Licht gedimmt, Geräusche auf Null. So begann es.
Gerade hinsetzen soll ich mich, sagt sie. Tief in den Bauch einatmen, bis er sich rausstreckt. Wie bei einem Hängebauchschweinchen. Hoch das T-Shirt. Da geht noch mehr. Ich schaue an mir hinunter. Schäme mich. Da ist er. Winterbleich. Schmerzend. Zitternd. Und das soll etwas bringen? Ich WERDE zum Hängebauchschweinchen. Und atme. Sie lächelt. Mich an. Meinen Bauch an. Alles ganz normal. So muss das sein. Das ist natürlich. Also atmen wir, das Schweinchen und ich. Zwei, drei Mal. Alles verkrampft. Schmerzt. Alles auf Anfang. Hinlegen. Hände auf den Bauch. Fühlen, wie er sich beim Einatmen hebt und wieder senkt. Fünf Mal. Zehn Mal. Zum ersten Mal in meinem Leben.
Aus dem Liegen arbeite ich mich hoch. In den 45-Grad-Winkel. Bis ich gerade sitzen kann, beim Atmen in den Bauch, ohne dass ich dabei verkrampfe und mir übel ist, wird es noch Wochen dauern. Weiß ich an diesem Januartag 2023 nur noch nicht. So selbstverständlich, wie das ist. Das Atmen. Durch Long Covid wird es zum „eine alte Gewohnheit brechen lernen, um wieder ins Leben zurückzufinden“. Ich habe keine andere Wahl. Und doch schäme ich mich. Warum eigentlich?
Versteckt hinter einem dicken Mantel gehen wir hinaus. Das Schweinchen und ich. Atmen. Ein. Aus. Geht gut. Tut gut. Ich lächle. Der Brechreiz wird besser. Und im Laufe der folgenden Monate auch viele andere Symptome. Ich kann meine Schlafstörungen in den Griff bekommen. Unruhe, Angstzustände, meinen Puls. Das Zittern. Alles fängt an, sich zu regulieren. Die Atemspaziergänge im ersten Jahr, – wie habe ich begonnen sie zu lieben.
Bis er kam, dieser eine erste Sommer. Mit ihm die Hitze, die mich ans Bett fesselt. Ich liege darin. Isoliert. Und atme. Mehr geht meist auch nicht. Kaum einer sieht mich. Mich, das Hängebauchschweinchen. Liegend. Atmend. Rettung und Folter zugleich. In diesem Raum muss ich niemand sein, der ich grad nicht bin, schlank und schön, und gleichzeitig bange ich um meine Zukunft, die nur stattfinden kann, wenn ich wieder hinausgehe, arbeite. Geld verdiene. Dort, wo ich die sein muss, die ich wohl noch nie wirklich war.
Machen wir uns also auf den Weg. Das Schweinchen und ich. Sommerlich bekleidet. Anvisiert, inspiziert, taxiert, wie ein Stück Ware, das abgelaufen ist. Einst, von Kopf bis Fuß, das perfekte Paket. Vorzeigbar. Und doch, so bemüht ich auch war, für viele immer noch ein Mängelexemplar.
Die falschen Schuhe, das falsche Shirt, ich am falschen Ort zur falschen Zeit. Immer umgeben von der Frage: Warum trägst du nicht das Label, das (Geld-)Schein statt (Mensch-)Sein schreit?
Ich tue so, als sähe ich es nicht. Mein Atem stockt. Unterbricht. Mach es einfach wie immer, dann geht es vorbei. Der Bauch wird eingezogen, schmerzend bemüht. Wir zwei. Für das Hängebauchschweinchen ist hier kein Platz. So unperfekt, wie es ist. Es, mein leerer, deutlich sichtbarer Siebter-Monats-Bauch, Long-Covid-Statist. Wir verstecken uns, um hineinzupassen in eine oberflächliche Welt, um zu überleben, mit dem Wenigen, was noch ist. Wir machen es wie immer. Zurückhalten, was raus will. Bis zum Feierabend. Bis es mich zerfrisst. Das Lächeln nehme ich mit, der Bauch bleibt, wo ich ihn die letzten zehn Stunden hineingezwängt. Verdrängt. Verkrampft, schmerzend, tiefe Spuren in der Haut, in mir. Hoffentlich ist bald wieder Winter hier.
Der Sommer hält an. Die Temperaturen steigen, die sieben zusätzlichen Kilos bleiben. Ihre Blicke auch. Vor allem am Bauch. Joggen, Sportstudio, Ausdauertraining, Krafttraining. Immer noch Zukunftsmusik. Wo ich früher nur flach atmen musste, um hineinzupassen, bin ich inzwischen eine Kleidergröße 42. Ich weigere mich. Meine Maße vor dem Gesicht. Früher war ich eine Raupe 36-36-36. Long Covid macht mich optisch zur Raute. 36-42-36.
Nur Zahlen – so scheint es – und doch genug, um vergangen Geglaubtes in mir zu erwecken. Alte Dämonen bahnen sich ihren Weg. Durch ein Jahr Schweigen. Es war ihr egal. Man sah mich nicht. Doch sie, das Mädchen in mir, das jahrzehntelang hungerte, um hineinzupassen. Verbissen, verzweifelt, schreit sie in mein Ohr. Durch die Erinnerung an meinen Körper. Der, den ich an diese Krankheit verlor. Sie will ihn wiederbekommen, sie will ihr altes Leben zurück.
Doch das, was ginge, was du kennst, womit du dich auskennst, um die Stimme zu ersticken, sie zum Schweigen zu bringen, geht halt nicht. Du kannst nicht hungern, weil es dir Kraft raubt, Symptome schickt. Dich zerbricht. Du kannst keinen Sport machen, weil es dich schwächt. All das noch Stress für deinen Körper ist. Du kannst nicht wieder gesund werden, wenn du es machst wie immer. Wenn du es machst wie die, die du in deinem tiefsten Inneren wohl immer noch bist.
Dabei begann es einst so banal. So naiv. Heutzutage fast schon normal. Als Frau musst du sexy sein und dich auch so zeigen. Dann wirst du begehrt, hofiert. Schönheit, Schlankheit – dein Freifahrtschein. Für einen guten Platz in dieser Welt. Wo Realness, wie sie es heute verkaufen, IN ist, wahrhaftige Authentizität wie ein Bauch oder Speck – bis auf ein paar wenige Ausnahmen – aber immer noch durchs allgemeine Beauty-Raster fällt. Geblendet, verdreht, vom gefilterten Social-Media-Schein, der uns früher von Zeitungscovern am Kiosk entgegenschlug. Andere Zeit, doch das gleiche Problem. Damals wie heute, für Mädchen und Frauen ein leider mehr als gefährlicher Betrug.
Geshaped, trainiert, sanduhrschlank. Für mehr Respekt, Ansehen, Erfolg. Man kann’s kontrollieren: Gott sei Dank. Vielleicht auch einfach entsprungen dem Glauben, so mehr oder überhaupt geliebt zu sein. Individuell und besonders. Speziell. Mit flachem Bauch versteht sich. Egal ob echt oder per App kreiert. Wenn der Rubel endlich rollt, wird das, was vermeintlich zu viel ist, irgendwann einfach wegoperiert. Was übrig bleibt vom speziell und individuell: Letztendlich nur der Klon einer Vision. Von oberflächlicher, menschengemachter Perfektions-Illusion. Kind-Frau-Hybrid und Superwoman zugleich. So sollen wir sein. Egal ob arm oder reich.
Der Ausflug in die Anorexie war nah, damals wie heute, die Gründe sind die gleichen und immer noch da. Ein flacher Bauch als Ziel oft nur der Beginn. Ich kenne sie. Ich lebte sie alle. Schau hin, wo ich nun 20 Jahre danach wieder bin. Zurück an dem Ort, der fast mein Untergang war, bin ich heute die vom Bauchspeck regierte. Verlockt, der Stimme zu folgen, die mich einst manipulierte. Damals schon mehr als gertenschlank. Size Zero waren meine Hosen im Schrank. Die Hosen sind fort, mit ihnen ich, … glaubt die Stimme. Wenn ich mich ihrer in schwachen Momenten entsinne. Bis heute, jetzt wo ich kämpfe. Mit Long Covid, dem Speck und meinem Wunsch: Ich bald wieder gesund. Mit Kurven an den falschen Stellen. Leicht gesagt vom außen dieses: Na, dann ist er halt rund …
Wir streben, ich strebe, und die Stimme schreit weiter, immer lauter, treibt dich hinein, vor und zurück, bis dein Nervensystem sich Stück für Stück munter im Purzelbaum dreht … Verwirrt. Suchend. Es weiß halt einfach nicht, wie es anders geht. Wohin, wenn nicht so wie immer. Mit Hungern als einem von vielen Wegen. Coping, um zu überleben. Einen Platz zu finden in dieser Welt. Einen, den ich wohl nie hatte. Weiß ich nun. Nachdem ich fast zwei Jahre atme. Richtig. Fernab vom alten Weg und Tun. Heilung bedeutet, ihn zu verlassen. Sich zu ergeben. Es lernen. Sich aufzulehnen gegen die Stimme, die schreit. So lange schon. Nahezu mein gesamtes Leben.
Der neue Weg liegt unter den Spuren des alten begraben. Ein Leben, das nur noch auf ziemlich wackeligen Beinen steht. Ein Leben, das inzwischen langsam, aber stetig mit all seinen schlimmen Erinnerungen und Erfahrungen in meinem neuen Leben untergeht. Das Schweinchen blieb. Es genauso wie ich. Die Raute. Inklusive der Zentimeter und sieben Kilos auf den Rippen zu viel. Zu heilen oder in Selbstzerstörung verbleiben. Mehr stand nicht zur Wahl. Ich habe mich entschieden und verfolge nun gut genährt mein Ziel. Inzwischen ohne einen dicken Mantel, unter dem ich mich verstecke. Wie damals.
Forever Eleven. Als die Welt manchmal schon ein schlimmer Ort war, aber wir zumindest noch tief in den Bauch atmen konnten. Ungeniert.
Ohne nachzudenken.
Ohne zu filtern.
Ohne zu schummeln.
Ohne, dass die Welt uns taxiert …
…
Das allgegenwärtige Streben nach Schlankheit ist nur ein Synonym, doch weil überall in unserer Gesellschaft präsent, für mich das naheliegendste Beispiel, um aufzuzeigen, welch Tragweite selbst banale Veränderungen wie etwa eine starke Gewichtszunahme für Erkrankte im Genesungsprozess haben können. Ich bin nicht die einzige von Long Covid betroffene Frau, die solchen oder ähnlichen vorbelasteten Aspekten ihrer Lebensgeschichte im Erfahren der Erkrankung und Heilung wiederbegegnet. Gut versteckt hinter alten Mustern, sichtbar werdend in Automatismen unseres Handelns und fühlbar durch erneut zum Leben erweckte Denkstrukturen. Nicht selten schon lange verlassene Abgründe, denen man sich neben dem Kampf gegen Körpersymptome und Schmerzen wieder stellen lernen muss. Selbst im Heilen sind wir nicht nur die, die wir sind und werden, sondern in Anteilen auch immer noch die, die wir vor unserer Erkrankung waren oder wurden.
Wir sind nicht nur Frauen mit Long Covid.
Zwischen uns sind Misshandelte, Missbrauchte, Vergewaltigte, Trauernde, Hungernde. Suchende, die Leere zu füllen, die in uns hinterlassen wurde. Eine Leere, die uns irgendwann in dem ganzen Schmerz und Leid, das unser Leben oft schon sehr früh bestimmte und wie ein roter Faden durchzog, ungeachtet dessen und vielleicht gerade deswegen, zu den Perfekten, Zielstrebigen, Stehaufmännchen werden ließ. Während wir uns verletzen, verletzt wurden und verlernten. Zu vertrauen. Zu atmen. Zu essen. Und uns selbst zu lieben. Versteckt zwischen TraumaTrümmerResten. Suche ich. Wenn die Stimme schreit, damals wie jetzt. Um die Leere zu füllen.
Die Leere, die auch dann manchmal zurückkehrt, wenn Long Covid bleibt und dein altes Leben mit sich nimmt.