GENESUNG

Nachdem ich mich, wie ich behaupten würde, doch recht eindrücklich mit meiner Erkrankung und den Dynamiken dahinter befasst hatte, glaubte ich, es würde einfach werden, auch dem ziemlich holprigen Weg der Genesung einen Rahmen zu geben. Strukturiert, analysiert, entmystifiziert. Ordnung schaffen im Chaos. Etwas, das ich bereits mein ganzes Leben lang auf die eine oder andere Weise gemacht hatte. Ein Heimspiel sozusagen. Doch ich wurde im Fortschreiten meines Erlebens der verschiedenen Stadien der Erkrankung eines Besseren belehrt. Unbestreitbar sprechen wir bei Long Covid von einer Krankheit, die schon im Symptombild wankelmütig wie das Wetter am Meer ist. Wer glaubt, der Heilungsprozess würde darin eine Ausnahme bilden, wird also vermutlich enttäuscht. Heilung ist nicht linear. Und selbst DAS akzeptieren zu lernen, ist ein Kapitel für sich.

Erschwerend für das Finden eines Heilungsweges kommt hinzu, dass jeder Betroffene sein eigenes Paket hat. Mit unterschiedlichen Symptomschwerpunkten und individuellem Empfinden, was darin die größte Belastung für ihn darstellt.

Ich habe viel gelesen, um Long Covid besser zu verstehen. Ohne all diese Informationen wäre ich vermutlich nicht in der Lage gewesen, in meiner Heilung voranzukommen. Letztendlich jedoch bilden aber auch Beiträge zu diesem Thema lediglich eine Zusammenfassung, die heruntergebrochen wiedergeben, was während des Erkrankungsprozesses geschieht oder geschehen kann. Grob gesagt, Momentaufnahmen dessen, was man als Betroffener WIRKLICH durchlebt. Und auch das, was beim Eintritt in die Genesung zwischen all den hilfreichen Self-Healing-Tipps mit und in einem geschieht, bleibt oftmals genauso unausgesprochen und im Dunkeln für die Außenwelt wie die Erkrankung und die damit einhergehenden Einschränkungen.

Jeder Betroffene könnte in der Variabilität des Erlebens von Long Covid sicher sein eigenes Buch schreiben. Krankheit und Heilung sind und bleiben also etwas sehr Individuelles, so wie jeder Mensch ein Individuum ist. Mit seiner eigenen Geschichte, die ihn an den Ort gebracht hat, an dem wir uns nun begegnen.

Auch mein Heilungsweg sollte in dieser Form wahrgenommen werden. Als etwas Individuelles. Manches, was hier zu lesen ist, kann geschehen, einiges wird nicht geschehen. Ich bin weder ein Orakel noch ein Arzt, daher ist der nun folgende Genesungsteil auch nicht als Anleitung oder medizinischer Rat zu verstehen. Aber möglicherweise schenkt es den einen oder anderen Impuls, dem man sich in den vielfältigen Aspekten, die man auf der Suche nach Genesung von Long Covid oder ME/CFS berücksichtigen kann, noch nicht als relevant erachtet hat.

Ich behaupte auch nicht, dass mein Weg der einzige Weg in die Genesung ist. Was jedoch außer Frage steht, und unabhängig davon, welchen Ansatz man für sich selbst wählt, inzwischen unbestreitbar und auch ohne Medizinstudium erkennbar wird: Long Covid ist auch im Heilungsprozess ein ziemlich sturer Bock und in die Genesung zu finden, bedeutet Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen und verlangt von Betroffenen und den Menschen, die sie im besten Fall durch diesen Prozess begleiten, sehr viel Durchhalte- und Einfühlungsvermögen. Aber es heißt ja nicht ohne Grund LONG Covid …

Doch was auf diesem Weg auch geschieht: Alles ist wichtig und alles ist richtig. Es handelt sich schließlich um einen Prozess und kein spontanes Erleben wie starke Zahnschmerzen, die vergehen, wenn man den Zahn zieht.

Da ich einige Ereignisse retrospektiv erfasst habe und manches im Moment des Erlebens, bleibt immer noch ein gewisser Raum für das zukünftig Mögliche. Diesen Raum habe ich nicht gefüllt, da sich mein Fokus einzig und allein auf meine Gesundung als Endziel richtet. Wäre, hätte, könnte, würde bringt einen an so einem Punkt nicht weiter. Letztendlich ist unser aller Ziel das Gleiche. Das, was uns miteinander verbindet. So individuell wir auch sind. Zu heilen.

Als ich vor über zwei Jahren beschloss, das Leben mit Long Covid schriftlich festzuhalten, wusste und glaubte ich noch nicht daran, dass ich die nun folgenden Kapitel eines Tages erreichen würde. Heilung war damals und für eine sehr lange Zeit weder greifbar noch denkbar. Nicht einmal zu erhoffen. Verfolgt von immer neuen Erkenntnissen der Wissenschaft und Hiobsbotschaften, die verhießen, dass diese nahezu unerforschte Krankheit, die von nun an also zu mir gehören sollte, der Feind ist. Ein unbezwingbarer Feind. Immer wieder wurde ich mit einem Wort konfrontiert. UNHEILBAR.

Für manch einen, den es nicht direkt betrifft, nur ein Wort als Resümee einer logischen Schlussfolgerung. Keine Therapien, keine Medikamente. Keine Heilung. Schnell gesagt, schnell wieder vergessen. Für mich jedoch wurde es zu einer sich immer stärker manifestierenden, weil im Außen immer wieder bestätigten Vermutung, dass dies oder gar Schlimmeres nun MEIN Leben ist und mich begleiten wird bis zu meinem Tod.

Etwas stirbt in dir im Augenblick einer solchen Gewissheit. Und es bleibt liegen. Dort, wo du es ablegst, um Abschied zu nehmen. Zurückblickend auf Erinnerungen an das, was einst dein Leben für dich war. Langsam fortgetragen, wie die Asche eines der Feuersbrunst zum Opfer gefallenen Baumes. Ich lag daneben. In Tränen der Nostalgie gefangen. Wehklagend. Anklagend. Mich. Ich weiß nicht einmal, warum.

In Panik und großer Angst vor einem solchen Schicksal stürzte ich mich auf jede erdenkliche Quelle an Informationen, die es frei zugänglich gab. Aus Verzweiflung und dem Bestreben, möglichst zügig eine Lösung für dieses Problem, das mich vom Leben abhielt, zu finden. Leider musste ich feststellen, dass ich mit diesem Überaktionismus vieles verschlimmerte. Meine Symptome, meinen Zustand und vor allem meine Zuversicht, dass es vielleicht doch einen Weg hinaus gibt. Eine Zuversicht, die mit fortschreitender Verschlechterung meines Befindens immer mehr aus meinem Alltag verschwand.

Das Leben als solches fand in dieser Zeit gefühlt an jedem anderen Ort als in meiner Gegenwart statt. Ich stand still. Versinkend in lähmender Erschöpfung und gleichzeitig gezwungen, hellwach zu sein. Nach und nach realisierend, dass ich nun – mehr denn je – auf mich allein angewiesen war. In Isolationshaft als Gefangene eines Zustands, der Planlosigkeit als zweiten Vornamen in sich trägt. Und das ist noch milde ausgedrückt.

Die ersten neun Monate wurden zu einer Phase, in der mein Körper und meine Erkrankung gegen meine Überzeugungen kämpften. Krank sein, das gab es einfach nicht für mich. Ich hatte schließlich immer einen Weg gefunden, derartigen Hindernissen zu begegnen. Sei es arbeiten mit gebrochenen Fuß, hohem Fieber, starken Schmerzen und unter schwierigsten Bedingungen. Und was macht Long Covid? Es streckte mir den imaginären Stinkefinger entgegen und ignorierte all meine vermeintlich gewonnenen inneren Kriege. Kopf sagt kämpfe, Körper sagt K.o. Hinein in den ersten Crash. Für Wochen ausgeschaltet. Gefolgt vom Zweiten. Dritten. Zu vielen.

Erst da begriff ich, dass mein Gegner nicht mein Körper ist, sondern ich selbst und meine Einstellung bezogen auf den Umgang mit meinen Ressourcen, den ich vor meiner Erkrankung immer für gesund und normal hielt. Er hatte mich schließlich durchs Leben gebracht und dafür gesorgt, dass ich im Leben dort war, wo ich war. Aber war es letztendlich wirklich erstrebenswert, dort zu sein, wo ich war? Gestrandet auf einer ziemlich kleinen Insel. Allein, oftmals isoliert in einem dunklen Raum, abgeschottet von der Welt, manchmal nicht einmal mehr in der Lage zu gehen, ohne zusammenzubrechen, nach Atem ringend. Jedes Geräusch zum Feind. Gefangen in Schmerzen, Fieber und einer dich überallhin begleitenden Ungewissheit, was noch alles mit dir geschehen wird auf dieser Reise. Oder sogar schon im nächsten Augenblick. Kann man das noch Leben nennen?

Ich bewegte mich auf einen Abgrund zu. Ohne Perspektive verlierst du dich unweigerlich mehr und mehr in dieser Krankheit und ihren Begleiterscheinungen. So lange, bis etwas passiert, dass dich wieder zurückholt in einen Zustand aus Hoffnung und Zuversicht. Nach zahllosen Nächten, in denen du von Todesängsten begleitet in den nächsten Tag hineingetrieben bist, … nun ja, eher wurdest. Mit Schallgeschwindigkeit ins Schneckentempo. 24 Stunden lang, einzig geleitet von dem Wunsch, dass all das aufhört. Dass es heilt. Von allein. Und vor allem schnell. Durch ein Wunder oder – in Ermangelung eines solchen – zumindest durch eine Wunderpille.

Wie ich heute weiß, ist wahre Heilung durch nichts davon initiiert. Außer vielleicht durch ein Wunder, dass man in sich selbst erwirkt …

Doch was bedeutet Heilung eigentlich? Beschreibt es das Verschwinden des Fiebers und der Schmerzen? Den Schlaf, der zurückkehrt nach unruhigen Tagen und den fehlenden Träumen in der Nacht, verursacht vom Durchstehen des Kampfes, der in einem wütet? Bedeutet Heilung, dass etwas verschwindet? Dass es verschwindet, als wäre es nie geschehen? Dass es vergessen wird und vergessen werden kann, begleitet von unsichtbaren Narben. Irgendwann nicht mehr der Rede wert.

Früher hätte ich genau das auf diese Frage geantwortet. Seit ich erkrankt bin, hat der Begriff Heilung für mich jedoch eine andere Bedeutung und tiefere Dimensionen erlangt, derer ich mir nicht einmal annähernd bewusst gewesen bin, solange ich gesund war. Oder zumindest glaubte, es zu sein.

Zu heilen bedeutet für mich inzwischen nicht mehr, nur ohne Symptome leben zu können. Es wurde und wird vielmehr zu einer krankheitsübergreifenden Erfahrung des Gehenlassens alter schädigender Umstände und Gewohnheiten, die – wie ich erkennen musste – ihre Haltbarkeit bereits lange vor meiner Erkrankung überschritten hatten. Eingestehen konnte ich mir das jedoch noch bis weit in meinen Krankheitsprozess hinein nicht. Weil ich glaubte, stark zu sein. Es mir selbst und allen beweisen zu müssen. Dass es weitergeht. Immer weiter. Bis es nicht mehr weiterging. Bis ein Wegschauen nicht mehr möglich war. Ich glaube, einen solchen Punkt hat jeder von uns. Manche kennen ihn und intervenieren. Ich erkannte ihn leider nicht. Ich bekam ihn vor die Füße geworfen. Zeitverzögert. Wie eine Lawine, deren Grollen dem geübten Ohr nicht entgangen wäre.

All das, was ich jahrzehntelang ignorierte, während ich meinen längst um Hilfe schreienden Körper weiter malträtierte. Den Blick getrübt durch Scheuklappen vor den Augen und gefangen in einem Automatismus, JA zu sagen, obwohl mein Innerstes bereits Nein schrie. Hätte ich früher hingehört, wäre es wohl nicht nötig geworden, durch eine Erkrankung in die Stille und Isolation geschickt zu werden. Damit ich endlich in mich hineinhören kann.

Mir begegnete in diesem Zusammenhang eine Benennung für den Weg, den ich beschreite: Heilung durch Krankheit. Ich glaube, sie beschreibt, dass etwas in dein Leben kommt, geht, mit sich nimmt, was du nicht mehr brauchst und gleichzeitig etwas viel Wertvolleres hinterlässt. Für mich fühlt es sich derzeit so an.

Zugegeben, niemand wünscht sich, krank zu werden. Schon gar nicht chronisch oder gar lebensbedrohlich. Doch ich denke, manchmal bedarf es im Leben genau solch außergewöhnlicher Zeiten und Umstände, um radikale Schritte zu wagen und neue Wege einzuschlagen. Zumindest trifft dies auf mich zu. Im Anbetracht all der positiven Veränderungen, die der Erkrankungs- als auch der Heilungsprozess – trotz all des Leidens, der Schmerzen und Entbehrungen, die damit im Zusammenhang stehen – in mein Leben brachte, glaube ich heute, dass ich meine Krankheit brauchte. Ja sogar, dass sie meine Rettung war. Wenn ich in meinem Leben so weitergemacht hätte wie bis dahin, hätte man mich in einigen Jahren mit einem Infarkt oder Schlaganfall von der Straße kratzen können. Rückblickend auf den Umgang mit meinen Ressourcen und dem Wissen, dass ich mir über die Auswirkungen auf meinen Körper angeeignet habe, ist dies sogar mehr als wahrscheinlich. Und ein viel zu hoher Preis für einen Platz in dieser Welt.

Long Covid wurde mein Notausgang. Mein fünf vor zwölf. Zeit zu gehen. Hinaus aus meinem alten Leben. Hinein in etwas, das gesünder, beständiger, zuverlässiger und nährender ist. Etwas, das ich dringend brauchte. Einen Ausweg ohne weitere Ausreden und Beschwichtigungen all dessen, was mich und meinen Körper schon all die Jahre zuvor Stück für Stück unsichtbar zusammenbrechen ließ.

Ich kann nicht genau sagen, wann mein Heilungsprozess begann und wie lange er noch dauern wird. Aber ich sehe bereits jetzt, dass sich etwas in mir verändert. In meinem Denken, meinem Handeln und sogar in meinen Träumen. Immer mehr und beständig. Weil meine Prioritäten sich verschieben.

Es mag für den einen oder anderen im Anbetracht der großen Einschränkungen, die Long Covid mit sich bringt, unverständlich klingen oder sogar triggern, aber mein Leben ist vollkommener geworden. Ich lebe in einer Fülle von Neuem, das ich jeden Tag im Altbekannten entdecken darf. Durch meine Erkrankung. So bizarr es auch klingen mag.

Jeder Raum, den Long Covid in meinem Leben für sich beansprucht, jeder Moment, der bereits hinter mir liegt, wurde und wird zu einer Gelegenheit, meiner Vergangenheit ins Auge zu blicken und sie hinter mir zu lassen. Und auch dieser Teil meines Heilungsweges wird irgendwann nur noch eine Vergangenheit sein, der ich ins Auge blicke. Und gerade dieses unauslöschliche Erfahren von Verlust und Gehen-lassen-Müssen wurde für mich zu einer Chance. Zu schauen, was ich wirklich im Leben brauche. Welchen Ballast ich über Bord werfen kann. Die Krankheit, mein Schiff ohne sicheren Hafen. Auch den baue ich derzeit. Doch zumindest bin ich inzwischen vom Smutje zum Kapitän aufgestiegen.

Ich bekomme ein neues Leben geschenkt und wachse in dieser Reduzierung auf das Wesentliche in dieses neue Leben hinein und über mich hinaus. Über die starke Frau hinaus, die ich jahrzehntelang glaubte zu sein. Und ich lerne. Durch das Ertragen von Schmerzen mitfühlend mit mir selbst zu werden, Grenzen zu setzen, Nein zu sagen, Pausen und Ruhe als Selbstverständlichkeit anzuerkennen und mir diese auch zuzugestehen. Im Akzeptieren, dass ich mich dem individuellen Tempo des Geschehens hingeben muss. Um die Heilung dort beginnen zu können, wo sie möglicherweise für jeden von uns beginnt. Im Abschiednehmen. Von Menschen. Gewohnheiten. Verhaltensweisen. Und letztendlich und final auch von dem Ort in einem selbst, der von Angst bestimmt wird. Meist für eine sehr lange Zeit. Dem Ort, an dem man krank war. Und den man gesund wieder verlassen will.

Von diesem Ort bis an den Punkt, an dem das Vertrauen in die Kräfte des eigenen Körpers sitzt und seine naturgegebene Fähigkeit, sich selbst zu heilen, ist es ein langer Weg. Heilung bedeutet, ihn Schritt für Schritt zu beschreiten und trotz aller Symptome, aufkommender Gefühle und Verluste, die ihn begleiten, geduldig zu bleiben. Vor allem geduldig mit sich selbst. Dies war mein erster Schritt.

Der wichtigste von allen.